Feuriges wie Chili oder Cayenne kaschiert oft nur Würzschwächen Ein "Space Woman" ist zweifellos ein
beeindruckendes Getränk. Auf die geschmeidigen Fruchtnoten von Mango und Maracuja sowie die
kompromisslose Wodka-Basis setzt in der Kölner Shepheard-Bar der
preisgekrönte Profimixer Mirko Gardelliano treffsicher Pfeffer und Peperoncino-Akzente. Eine gelungene
Kreation im kulinarischen
Zeitgeist. Ein scharfer Grundton gehört mittlerweile zum Genussdiskurs - die Chili-Mode hat sich zum
Dauertrend entwickelt,
der sich in der Cocktail-Avantgarde ebenso niederschlägt wie bei
Fisch in Dosen. In jeder Schokoladenabteilung reihen sich die verschärften Varianten aneinander und
zählen schon fast zum Klassikerfach. Crème brûlée bekommt in zahlreichen Restaurants ebenso ihre
Schärfe ab, wie Getränke, angefangen beim Yogi Tea Sweet Chili, Schwarztee mit Trüffel-Chili über Chili-
Kakao bis zu
"Chili-Beer", einer US-Sorte mit Schote in der Flasche. Und ein Ende
der Produktentwicklungswut ist nicht abzusehen, für März plant zum Beispiel "Bonaqa" die
Markteinführung einer neuen Linie für Wasser mit Geschmack. Eine Sorte heisst - natürlich "Mango-Chili".
Alles soll scharf, alles soll sexy sein. Kein Wunder, dass sich Feinde des Dauerfeuers fragen: Wie konnte
es nur so weit kommen,
dass ein Würzstoff in beinahe jeder Sparte des Genussmittel-Markts
landet? "Chili in Lebensmitteln gibt den Konsumenten einen neuen Kick", sagt Anja Kirig, Trendforscherin
am Zukunftsinstitut in Kelkheim. Gerade die ungewohnte Spannung zwischen süss und scharf komme gut
an. "Bei vielen Produkten wirkt das fast wie ein Geschmacksverstärker", erklärt Kirig die sinnliche
Empfindung.
Doch das ist oft nicht mehr als Erfolg durch Effekt. Denn wo Schärfe in Mindestmassen eine
intensivierende und damit durchaus positive Wirkung haben könnte, tarnt ein Temperaturtrick tatsächliche
Produktlangeweile. "Scharf" selbst ist nämlich kein Geschmack wie bitter oder sauer, sondern ein
Schmerzreiz, der über den Trigeminusnerv ans Gehirn weitergeleitet wird. Auslösender Stoff, der Schoten
von Chili über Chipotle bis Cayenne ihre Wirkung verleiht, ist Capsaicin. Und das von dem Alkoloid
ausgelöste Nervensignal meldet "heiss", was auch die englische Bezeichnung für scharf - "hot" -
begründet. Ein Urinstinkt, der zur Vorsicht
gemahnt, erklärt der Neurophysiologe Professor Heinz Breer, Leiter des Instituts für Physiologie an der
Universität Hohenheim.
Könnte das nicht Anlass genug sein, auch etwas mehr Vorsicht bei den sensiblen Verbrauchernerven
walten zu lassen? Denn auch wenn sich Chili als Gewürz grundsätzlich mit fast allem verträgt und sich der
Horizont des deutschen Durchschnittsgaumens mittels dieser Mode um einiges erweitert hat - der
Übereinsatz von Chili in all
seinen Variationen, Peperoni oder Peperoncino nervt. "Chipsfrisch ungarisch"-Fundis sind zu "Peperoni"
übergelaufen, nur weil pikant
en vogü ist. Ohnehin schon fragwürdige Erfindung wie Frischkäsescheiben tarnen ihre Geschmacklosigkeit
mit synthetischem "Paprika-Chili"-Pep, und der Fisch-in-Dosen-Produzent Appel will mit
seiner neuen Kreation "Heringsfilet Sweet Chili" im "Olympischen Asia-Jahr einen Trend setzen". Macht
Chili banale Ware sexy? "Das
Gewürz gibt auch herkömmlichen Lebensmitteln einen Mehrwert, eben in Form von Erlebnisfaktor, Genuss
und Gesundheitsnutzen", erklärt Trendforscherin Kirin. Diesen Erlebnisfaktor wollen sich auch zahlreiche
Gastronomen zunutze machen. In deutschen Restaurantküchen ist Schärfe "in". "Der Trend kommt der
Bequemlichkeit vieler Köche sehr entgegen", kritisiert Gastro-Experte Helmut Gote. "Mit Chili peppen teils
sogar
anspruchsvolle Küchen ihre Gerichte auf und kaschieren damit Würzschwächen", sagt der
Restaurantkritiker des "Kölner Stadt-Anzeiger".
Ein Essen einfach nur scharfzumachen, sei - eben weil es sich um
keinen echten Geschmack handelt - kulinarisch das Langweiligste
überhaupt. Aber es ist auch ein Kinderspiel, denn schon das Aromatisieren von Öl mit Gewürzpaprika oder
Chili gelingt einfach und schnell. Trotzdem: "Chili-Öl und Chili-Fäden werden in erster
Linie falsch und nur vordergründig eingesetzt", so Gote. Während in einem gut gekochten und geschärften
asiatischen Gericht auch zarte Nuancen von Zitronengras, Kaffirlimettenblättern oder Thai-Basilikum zur
Geltung kommen, beherrschen nur wenige Köche
hier das feine Spiel mit den unterschiedlichen Schärfegraden.
_Frisch würzt anders_ Frischer Chili würzt eindeutig anders als getrockneter und gemahlener, die
unzähligen Sorten wiederum sind unterschiedlich scharf. Falsch und nur vordergründig eingesetzt,
überdeckt ihre Wirkung den Eigengeschmack der anderen Zutaten und Gewürze. Allzu gerne würden
Chili-Verächter den Schoten die
geschmackseintrübende Wirkung wissenschaftlich nachweisen. Aber das grenzte aus
Forschungsperspektive an Verleumdung. Wenn auch subjektiv empfunden wird, dass der Mundraum brennt
und dadurch jede weitere Geschmacksempfindung unmöglich gemacht wird -
wissenschaftlich belegt ist noch nicht, ob es zu einer tatsächlichen Wechselwirkung mit
Wahrnehmungszellen etwa für salzig oder süss kommt.
"Wahrscheinlich misst das Gehirn diesem Sinneseindruck einen höheren Stellenwert zu, und das führt
dann zu einem schwächeren Geschmackseindruck", erläutert Professor Breer die unterschiedliche
Intensität von Schärfeempfinden und Geschmacksstoff.
Der Durchmarsch durch Küchen und Produktdesign von Chili wird von einigen positiven Eigenschaften
zusätzlich unterstützt. Unter dem Stichwort "Scharf macht schlank" firmieren auch Senf und Meerrettich
als Kalorienkiller. Die erotisierende Nebenwirkung verschiedener Gewürze hält sich als Klischee noch
hartnäckiger als Schärfe in Schokolade. Chili steht da lediglich in einer Reihe mit Pfeffer, Zimt oder
Koriander. Auch Aromen wie Anis, Vanille, Ingwer oder Safran sollen ähnliche Wirkungen zeigen. Aber
keines hat eine derart umfassende Karriere wie die Chili-Schote zustande gebracht.
Mehr als ein Zusatzargument für den Zuspruch zu Scharfem will Trendexpertin Kirin den positiven
Nebeneffekten dennoch nicht zuschreiben. "Die meisten Konsumenten greifen aus dem Genussaspekt
heraus nach Chili-Eis oder -Schokolade", sagt sie, räumt aber
zugleich ein: Würde Capsaicin weniger gute Eigenschaften nachgesagt
(siehe Kasten), hätte die Schote sicher einen schwereren Stand.
Alle lieben also scharf, und wer glaubt, zumindest der Chili-Schokoladen-Hype sollte langsam abklingen,
irrt. Das beweist
allein schon Lindt mit seiner erweiterten "Hot Chocolate"-Kollektion. Dabei zeigen doch die weniger
marktmächtigen
Produzenten, wie schön und subtil der Einsatz von Gewürzen sein kann. Der Österreicher Josef Zotter hat
zum Beispiel so spannende Sorten wie "Hibiskus-Kamille" neu in seinem Schokoladensortiment.
Der auch oft als "Gewürzguru" bezeichnete Händler und frühere Gastronom Ingo Holland bietet in seinem
"Alten Gewürzamt" in Klingenberg Schokoladen mit verschiedenen Salzsorten und Gewürzen an, die er
auch übers Internet vertreibt, etwa "Le Goût du Soleil", eine Edelbitterschokolade mit getrockneten
schwarzen Oliven, Fleur de Sel und Lavendelblueten. Zart zieht auch - sollte die neue Devise
sein.
_Scharfer Segen für Kochtraditionen weltweit_ Der Siegeszug der sehr pikanten Würzung ist nicht zuletzt
dem grossen Einfluss der asiatischen und Texmex-Küche geschuldet, die
die Deutschen an scharfe Speisen gewöhnt haben, sagt Trendforscherin Anja Kirig. Und jenseits jeder
Produktmanie ist Chili natürlich ein Segen. Küchentraditionen weltweit haben Speisen hervorgebracht, in
der die Beerenfrucht die entscheidende Rolle spielt.
Südostasiatische Currys wären ohne Schärfe undenkbar. Die indonesischen Varianten der Würzpaste
Sambal könnte es ohne Chili nicht geben.
Die Küche Mittel- und Südamerikas arbeitet häufig mit den
verschiedenen Varianten: Chili serrano ist unentbehrlich für Salsas
und Guacamole. Chili jalapeño wird in Mexico in Öl eingelegt, mit Frischkäse gefüllt oder in Teig
ausgebacken.
Italien huldigt Peperoni und Peperoncino nicht nur mit den schlichten Pasta-Köstlichkeiten "all'amatriciana"
oder
"all'arrabiata", sondern auch in so geheimnisvollen Waren wie der kalabresischen "'Nduja", einer
Schweinswurst, die zu einem fast schon schockierenden Anteil aus Scharfmachern besteht. Aus den
Küchen wird ein unglaubliches Mischungsverhältnis von 100 Gramm Peperoncino auf ein Kilogramm
Schweinehackfleisch gemeldet.
Welche Gerichte man auch nachkocht, welche Chili-Sorten auch
verarbeitet werden - für alle gilt: Die Konzentration an Capsaicin
ist in den Kernen und den weissen Trennhäuten am höchsten, das Fruchtfleisch ist milder. Am schärfsten
wird das Essen, wenn auch die Kerne fein zerstossen zugegeben werden. Ist man sich über die Schärfe
der Schote unklar, am besten zunächst nur in niedriger Dosierung einsetzen, dann kommen zumindest die
anderen Gewürze gut zur Geltung.
Zum Kleinschneiden von Chilis und scharfen Gewürzpaprikaschoten trägt man am besten Handschuhe.
Ansonsten nach der Berührung mit dem Fruchtfleisch besonders gründlich die Hände waschen.
_Fünf Pluspunkte_
- Scharf macht schlank: Die Schärfe in Chili, Meerrettich, Senf
oder Ingwer erhöht die Körpertemperatur und damit den Energieverbrauch. Durch Thermogenese werden
Kalorien verbrannt.
- Scharf tut gut: Capsaicin wird von Ernährungswissenschaftlern zu
den Bioaktivstoffen gezählt. Sie regen die Verdauung an und schützen vor Magengeschwüren. Vorsicht:
Eine Überdosierung greift
aber die Magenschleimhaut an.
-Scharf macht gute Laune: Der Reiz der Schärfe lässt das Gehirn
vermehrt Endorphine ausschütten - und die machen glücklich.
- Scharf gegen Schmerzen: Auch Rheumapflaster bedienen sich dieser
Wirkung von Capsaicin. Erst produziert der Stoff Hitze, dann kann die Endorphinausschüttung den
Schmerzreiz sogar überdecken.
- Scharf hält gesund: Chili stärkt mit seinen ätherischen Ölen
die Abwehrkräfte.