Ein Besuch von Tante Amadee war immer eine aufregende Angelegenheit.
Die Schwester meines Vaters kam zwar selten zu uns, verstand es aber, in den wenigen Tagen ihres
Aufenthalts uns Kinder völlig zu begeistern. Meine Mutter hingegen geriet jeweils fast an den Rand eines
Zusammenbruchs. Der Schlusspunkt von Tante Amadees Aufenthalts war stets ein Streit mit meinem
Vater, bei dem sich die zwei Geschwister 'endgültig und zum letzten Mal' überwarfen # worauf Tante
Amadee 'für immer' abreiste.
Danach dauerte es eine Weile, bis wir Kinder die mit Tante Amadee erlebten Abenteuer allmählich
vergassen, bis die Mutter ihre Fassung wiedergewann und bis der Vater schmollend eingestand, dass wir
der Tante einen Anruf zu Weihnachten machen, eine Karte zum Geburtstag schicken sollten. Kurz und gut:
Man schloss wieder Frieden # einmal
mehr.
Elegant gekleidete Exzentrikerin In den Augen meiner Familie galt Tante Amadee, vorsichtig ausgedrückt,
als eine exzentrische Person. Einige Male verlobt, hatte sie diesen Partnerschaften immer im letzten
Moment entsagt. Sie hatte Schränke mit noch originalverpackten Geschenken zu bevorstehenden
Trauungen. Selbst die Glückwunschkarten zu den diversen Festlichkeiten hatte sie aufbewahrt.
Tante Amadee war eine stets in dunklen Tönen gekleidete elegante Frau. Sie trug Kostüme aus kostbarer
Wollmousseline und schwerer Seidencrepe, die genauso handgefertigt waren wie ihre hochhackigen
Schuhe. Ihre Ledertaschen waren riesig und enthielten so faszinierende Dinge wie Pillendöschen aus
Porzellan oder mit Krokodilleder bezogene Notizbüchlein.
Von Beruf war Tante Amadee Mittelschullehrerin für moderne Fremdsprachen. Als sie nach vielen Jahren im
Schuldienst wie üblich ehrenhalber den Titel einer Professorin erhielt, rollte Vater seine Augen ganz
besonders dramatisch, und Mutters Lippen wurden zu einem schmalen Strich. Sie ahnten beide, dass das
Leben mit unserer Tante nun noch ein bisschen schwieriger werden würde.
Von allen unbestritten war immer nur eines: Tante Amadee konnte
kochen wie eine Göttin! Ihre Besuche bei uns waren für meine Mutter stets regelrechte Kochlektionen.
Tante Amadee formte die kleinsten, zartesten Gnocchi. Sie brachte Mutter die perfekte Fischküche bei.
Ihre Desserts lohnten # fast # jede Aufregung.
Streng war sie dabei stets auch mit uns Kindern: Beim Kuchenbacken
mussten wir die Zucker-Ei-Masse mit dem Holzlöffel während 30
Minuten im Uhrzeigersinn schlagen. Dass dies ein raffiniertes Mittel war, um uns Kinder still zu halten, ist
mir erst Jahre später aufgegangen.
Ihre Tricks nahm sie mit ins Grab Tante Amadee pflegte ihre 'Küchengeheimnisse' nur nach vielen
Kinderküssen und inständigen Bitten preiszugeben. Manche Tricks behielt sie dennoch strikt für sich.
Jeden Herbst brachte sie uns zum Beispiel den Konfitürenkuchen mit. Eine einfache Sache, könnte man
meinen # ein etwas trockener Kuchen, der mit frischer Konfitüre gefüllt war. Doch Tante Amadees Kuchen
besass einen derart vollen Geschmack, dass jeder Bissen zu einem wahren Genuss wurde. Weshalb dem
so war, blieb ihr Geheimnis.
Lüften konnte ich dieses erst, als ich nach Tante Amadees Ableben ihr Haus zu räumen hatte. Dabei fand
ich eine ganze Reihe handgeschriebener Hefte, in denen Amadee die wichtigsten Rezepte ihres
Kochrepertoires genau beschrieben hatte. Allerdings stiess ich da und dort auf Stellen, die in
Stenografieschrift geschrieben waren # Tante Amadee liess sich also auch nach ihrem Tod nicht so einfach
in ihre Karten schauen. Es dauerte eine Weile, bis ich eine pensionierte Sekretärin fand, die die
Rezeptstellen entziffern konnte.
Das Rezept für den Konfitürenkuchen musste ich ziemlich lange suchen, denn Tante Amadee hatte es
weder unter 'Desserts' noch unter 'Kuchen' eingeordnet, sondern unter 'Brote'. Es ist zudem reiner Zufall,
dass ich die Bezeichnung 'Sarrasin' als französische Bezeichnung für Buchweizen entschlüsseln konnte.
Seither jedoch gibt es für meine Familie einmal im Herbst Tante Amadees Konfitürenkuchen.