Am Anfang steht der Käse. Er ist älter als das Wappen mit den dreizehn Sternen, Symbole für die 1815
endgültig gebildeten dreizehn Walliser Bezirke (Zenden). Den Käse gibt's, seit die einheimischen Hirten
und Sennen mit ihren Kühen auf der Alp übersommern. Sie nannten ihn Bratkäse (französisch: Fromage a
rotir); er war der Einfachheit halber vollfett. Denn um aus der Milch noch Butter zu gewinnen, hätten die
Hirten mühselig "Aichchibji und Gebse" (Butterfass und Aufrahmgefäss) auf die Alp schleppen müssen.
So schütteten die Melker die Milch durch einen Trichter (Folla), dessen untere Öffnung mit Pflanzen- und
Kräuterfasern verstopft
war, direkt in den Kessel und verarbeiteten sie zu frischen runden Käselaiben von ungefähr acht bis zehn
Kilogramm. Gelagert für die langsame Reifung wurden sie im nahe gelegenen Spycher, wo sie der
Meisterkäser salzte und von Zeit zu Zeit wendete. Mit der Alpabfahrt kamen die Laibe zu Tale und wurden
von ihren Besitzern in die so genannte Käseleiter an der Kellerdecke gehängt - ihre Zahl
widerspiegelte den Reichtum des Bauern. Der vollfette Alpkäse, reserviert für festliche Anlässe, wurde mit
zunehmenden Jahren immer besser.
So viel zum Käse - wie aber wurde schliesslich die Raclette geboren?
Darüber erzählt man sich im Wallis gerne die Geschichte der Winzer, die einst oberhalb von Sierre (Siders)
bei beissender Kälte in den Rebbergen arbeiteten. Mittags kramten sie Käse, Brot und Wein aus ihren
Säcken und entfachten ein Feuer aus Sarment (so heisst das Rebholz im Oberwallis). Einer der Winzer
kam auf die Idee, sein Stück Käse langsam über dem Feuer zu braten und das Erwärmte mit einem
Messerrücken abzuschaben... Ihren heutigen Namen (und die offizielle Weihe!) erhielt die traditionelle
Bratkäsezubereitung aber erst 1909, an der kantonalen Landwirtschaftsausstellung in Martigny. Dort taufte
man sie La Raclette - abgeleitet vom
französischen racler, abkratzen, abschaben. Ein gleichnamiges Lied, komponiert von Oscar Perrollaz und
gesungen zu schmissiger Blasmusik, verhalf der Raclette zu breiter Publizität. Als klassische
Raclettekäse kristallisierten sich die Vollfettkäse des Val de Bagnes (bei Martigny) und des Gomser Tales
(Oberwallis) heraus - es
sind noch immer die besten, decken allerdings die heutige Nachfrage längst nicht mehr ab. So stammt
heute in der Schweiz viel angebotener Raclettekäse aus über dreissig Sennereien anderer Kantone und
aus französischen Grosskäsereien... Diese namen- und geschmacklosen
Sorten bringen zwar den Schmelz, nie aber die charakteristische Würzigkeit in den Käse, deshalb: Wählen
Sie für eine gute
Raclette einen reifen, echten Bagne oder Gomser in Ihrem Käsefachgeschäft! Original ist die Raclette ein
Frischluftgericht - und beileibe nicht
auf den Winter beschränkt! Hier das Rezept für Ihre OriginalRaclette-Party im Freien: Eine Grube graben,
sie auf drei
Seiten mit Steinen als Windschutz einfassen und ein Feuer entfachen, idealerweise mit Rebholz, das der
Raclette eine unverwechselbare Würze verleiht. Die Hälfte eines Käselaibes aufeine flache Steinplatte
legen und diese an die Gluthitze schieben. Wenn der Käse schmilzt, ihn mit einem Spachtel oder einem
langen, breiten Messerrücken auf die Teller abstreifen, mit oder ohne knusprige Rinde (die Walliser nennen
sie la religieuse). Dazu kleine Kartoffeln und Cornichons servieren, als Variante auch Silberzwiebeln und
Pfefferschoten. Ideale Begleiter sind würzige Walliser Weissweine, etwa Fendant oder Humagne blanc;
Kennerinnen und Kenner leisten sich eine "Petite Arvine". Dass sich Raclettekäse zudem auch
ausgezeichnet für Salate, Gratins und weitere Gerichte eignet, die nach einem würzigen Käse mit feinem
Schmelz rufen, ist für Gourmets klar.