Salate sind in der japanischen Speisenfolge dazu da, Appetit und Lust aufs Essen zu machen.
"Für meine Mutter begann jeder Tag bereits um fünf Uhr früh." Zwei Stunden, bevor der Rest von Sala
Ruchs Familie aufstand, ging ihre Mutter jeweils in den Garten und holte frisches Gemüse und reife
Früchte für das Frühstück. "Wenn ich das Wort höre, denke ich an sie", sagt Sala und erinnert
sich auch, wie gross dieser Garten in ihren Augen war. "Einem Kind erscheint die Welt wahrscheinlich
immer riesig." Um ihre Erinnerungen zu bestätigen, schreitet sie diesen Garten in Gedanken nochmals ab.
Sie sieht die exakt ausgerichteten Beete vor sich, nennt die verschiedenen Obstbäume und erzählt, dass
es sogar ein Reisfeld gab. Einige Angestellte waren bloss dazu da, diesen Riesengarten in Ordnung zu
halten. "Er war das Paradies meiner Jugend, und meine Mutter war die unumschränkte Herrin über ihn.
Alles, was ich über japanische Küche weiss, hat mit diesem Garten begonnen." Hier hat die kleine Sala
vor allem den Wert wirklich frischer Gemüse erfahren. Frische ist auch das Stichwort, wenn sie von Salat
spricht.
"Er ist ein integraler Bestandteil jedes japanischen Essens. Entweder kommt er als Vorspeise oder vor
dem Hauptgericht als eine Art Zwischengang auf den Tisch." So oder so hat er eine Funktion im Ablauf des
Essens. Er soll "sappari" sein, dem Gast mit seiner frischen Säure und den appetitlichen Zutaten Appetit
machen. Deshalb werden auch viel kleinere Portionen als in Europa aufgetragen.
"Appetitlichkeit", sagt Sala, "hängt nicht von der Menge ab, wichtig ist, wie die Speise präsentiert wird, wie
sie schmeckt und wie sie wirkt." In der japanischen Küche sind Nahrungsmittel und Kochtechniken eng
mit der Geschichte des Landes und seiner Entwicklung verbunden. So kam Sojasauce im 7. Jahrhundert
dank den Handelsbeziehungen mit China nach Japan. Sushi wurde von Fischern aus gesäuertem Fisch um
das Jahr 1000 kreiert. Hundert Jahre später begannen Zen-Mönche zur
Unterstützung ihrer Meditationen grünen Tee zu trinken. Ohne die Ankunft der Portugiesen im 17.
Jahrhundert gäbe es kein in Teig ausgebackenes Tempura. Rindfleisch hingegen gelangte laut
Aufzeichnungen erst im 19. Jahrhundert ins Land, weil die ansässigen und handeltreibenden Ausländer
danach verlangten. Wann aber die Salate in Japans Esskultur zum erstenmal auftauchten, ist nicht klar.
Doch es gab Reiswein, und wo Wein ist, ist auch Essig. Weshalb soll es da nicht auch Salate gegeben
haben? Wie alle Kinder hatte auch Sala diese sauren Speisen nicht besonders gerne. Wie alle Eltern
solcher Kinder versuchten auch Salas Eltern, ihre kleine Tochter mit Argumenten zu überzeugen. "Bei uns
hiess es, der Genuss von Essig rege den Kreislauf an, lasse die Haut strahlen und mache den Körper
elastisch." Zur Unterstützung ihrer Überredungskünste führten die Eltern ihr Kind in den Zirkus und
erklärten ihm, die Artisten hätten so biegsame Körper, weil sie von klein auf Essig getrunken hätten. Fortan
ass Sala Salat ohne Widerrede - und turnte unermüdlich und mit Lust.
Was unterscheidet japanische Salate von europäischen? Am augenfälligsten ist, dass alles Mögliche in
Salaten Verwendung findet: frisches oder leicht angegartes Gemüse, eingeweichter
Seetang, Fleisch von Fischen, Geflügel, Schalen- und Krustentiere.
Doch trotz der Vielfalt an Zutaten sind die Portionen stets bescheiden. Gewürzt wird mit Reisessig, der
sehr viel milder ist als europäischer Weinessig. Würze und nicht Sämigkeit ist das Hauptmerkmal der
Sauce. Deshalb wird Öl zu Würzzwecken eingesetzt, ebenso Wasabi, scharfer Wasserrettich. Er gibt der
Sauce Pfiff, verleiht ihr aber auch eine leichte Cremigkeit. Dieselbe Wirkung haben zerdrückter Tofu oder
zerstampfte Sesamkerne.
Wer einen japanischen Salat probiert, merkt sofort, dass er anders schmeckt. japanische Salate sind von
Saucen nur begleitet, sie dürfen ihren Geschmack nicht verfälschen. Europäische Salate sind die Summe
ihrer Zutaten, die japanischen spielen mit den verschiedenen Geschmacksnoten und zusätzlich mit den
unterschiedlichen Strukturen der Salatbeigaben. Auch Salate sind so komponiert, dass sie den zentralen
Grundsatz der japanischen Küchen- und Esskultur und Salas
Leitlinie bestätigen: "je verschiedenartiger ein Gericht in seiner
Zusammensetzung ist, desto besser versorgt es den Körper."