Bei der wichtigsten und grössten gesamtdeutschen Studie rund um die Ernährungsgewohnheiten der
Deutschen wurden Daten von 20.000 Bundesbürgern erhoben. Auftraggeber der Nationalen Verzehrsstudie
(NVS) ist das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Ziel der Studie:
Aktuelle Informationen über den
Ernährungsstatus und das Ernährungsverhalten der Bürger zu sammeln als Grundlage für konkrete
Ernährungsempfehlungen und Verbraucheraufklärung.
Am 3. November 2005 war sie planmässig an den Start gegangen und wurde Ende 2006 abgeschlossen.
Ende Januar 2008 veröffentlichten die Experten die ersten Ergebnisse. Die Basisauswertung wurde Ende
April 2008 beendet. Sie bestätigt vieles, was wir schon seit Jahren über unser Ernährungsproblem zu
wissen glauben. Damit die Verbraucher von der kostenintensiven Studie profitieren, müssen nun detaillierte
Datenanalysen folgen. Erst dann können gezielte Massnahmen zur Verbesserung der Ernährungssituation
umgesetzt werden. Doch Kritiker befürchten, dass es so weit gar nicht erst kommen wird.
_Kein Konzept gegen Übergewicht_ Die Deutschen werden immer dicker, die daraus entstehenden
Folgeerkrankungen nehmen dramatisch zu. Bisherige Kampagnen und Versuche gegenzusteuern, blieben
im Grossen und Ganzen gesehen ziemlich erfolglos. Der ungesunde Trend bleibt ungebremst. Was aber
sind die Hauptprobleme? Wo muss man am dringendsten etwas tun? Und vor allem wie? Die Nationale
Verzehrstudie könnte Antworten auf all diese Fragen geben und spezielle Risikogruppen ausloten:
Familien,
Singles oder Alleinerziehende, junge Menschen oder Senioren, Bürger aus dem Norden oder Süden, Osten
oder Westen. Am Ende der Studie sollte ein möglichst genaüs Bild unserer individuellen Ernährung
entstehen.
_Jetzt wird es interessant_ Nach den bisherigen Veröffentlichungen zur NVS, die noch ein eher
oberflächliches Bild zeichnen, müsste es jetzt weiter in die Tiefe gehen. Denn jetzt werde es interessant,
so ein Wissenschaftler, jetzt werden Zusammenhänge sichtbar - auch zwischen Schicht,
Bildung und Einkommen auf der einen Seite sowie Nährstoffversorgung und Energiebilanz auf der anderen.
Essen Menschen mit wenig Einkommen kein Obst? Wie kaufen sie ein? Steuerzahler und Verbraucher
könnten so von den Daten der Studie profitieren, wenn nämlich die Informationen darüber, welche
Bevölkerungsgruppen wobei Unterstützung brauchen, genutzt würden - weg vom wahllosen
"Giesskannenprinzip", stattdessen zielgenaü, alltagstaugliche Projekte. Differenzierte, an die
Risikogruppen angepasste Massnahmen könnten so auf vielen gesellschaftlichen Ebenen durchgeführt und
bewertet werden.
_Kritik: Auswertung zu oberflächlich_
Es ist ein enormer Aufwand erforderlich, den riesigen Datensatz der NVS zu entschlüsseln. "Er ist
einzigartig in Europa, darum beneiden uns so manche Nachbarn", so Dr. Christine Brombach, die
ehemalige Leiterin der Studie. Doch anstatt alle Fachkräfte weiterarbeiten zu lassen, wurde das Team
verkleinert. Die Verträge von den meisten beteiligten Wissenschaftlern sind nicht verlängert worden. Die
Fachwelt kritisiert, dass eine detaillierte Auswertung der Studienergebnisse nun nicht stattfindet. Mit zwei
verbleibenden Wissenschaftlern seien Aktionen in einem vernünftigen Zeitrahmen nicht möglich. Beklagt
wird von einem Insider zudem eine Verschwendung von öffentlichen Mitteln. Damit fällt auf die Studie ein
Schatten. So sieht es auch Prof. Ulrich Oltersdorf, bis August 2007 Direktor und Professor an der
Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel, die die NVS durchführt. "Wer soll die
anstehenden notwendigen Analysen und Planungsarbeiten für die nationalen und regionalen
Ernährungsaktionspläne dann erstellen?", fragt er in einem "Offenen Brief" an die Entscheidungsträger und
Politiker im Bereich Umwelt, Gesundheit und Ernährung. "Ganze zwei Forscher sollten das NEMONIT
(Nationale Ernährungsmonitoring) stemmen", so Prof. Oltersdorf. Dass das nicht geht, dürfte bekannt sein.
Wenn aber keine Auswertung kommt, sind die Mittel die bisher eingesetzt wurden, verschwendet. "Warum
wird Wissen geschaffen, wenn es nicht genutzt wird?", fragte Prof. Ulrich Oltersdorf. Er erhielt keine
Resonanz auf seine Anfrage.
Auch Dr. Andrea Lambeck, im Nutzerbeirat der NVS und Vorstandsvorsitzende des Verbandes der
Öcotrophologen e.V., sagt dazu: "Das wäre eine Schande, wenn dieser Datenschatz nicht gehoben
würde. Es sind noch viele Fragen nicht beantwortet, die gerade im Zusammenhang mit dem Nationalen
Aktionsplan Ernährung spannend sind. Es wurde sehr viel Geld für die Datenerhebung ausgegeben, nun
müssen die Ergebnisse bis aufs Letzte ausgewertet werden. Auch den Teilnehmern gegenüber ist das fast
unerhört. 20.000 Menschen haben mehrfach ihre Zeit geopfert. Sicher nicht dafür, dass die Informationen
jetzt in der Schublade verschwinden." _Nationaler Aktionsplan Ernährung lässt auf sich warten_ Die Daten
aus der Studie, so der mittlerweile in Ruhestand gegangene Wissenschaftler Prof. Ulrich Oltersdorf, seien
Daten für Taten.
Bleiben diese jetzt aus? Sein "Leuchtturmprojekt" soll Horst Seehofer, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz, die NVS genannt haben, ein Leuchtturm im "Nationalen Aktionsplan
Ernährung". Der ist "ein einziger Stein des Anstosses", so Ulrike Höfken vom Bündnis 90/Die Grünen und
Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. "Der
Minister kündigt nur immer wieder Aktionen an, wir können aber nicht nachvollziehen, wohin die im
Haushalt bewilligten Mittel fliessen. Mit zwei verbleibenden Wissenschaftlern sind umsetzbare Aktionen in
einem vernünftigen Zeitrahmen nicht möglich. Dabei schreien die Daten, die wir bisher schon kennen,
danach." Es fehle am Konzept, wird gemutmasst. Hätte man eines, bräuchte man mehr Wissenschaftler.
Seit 2006 arbeitet das Ministerium an einem Nationalen Aktionsplan Ernährung, ohne bislang Konkretes
vorgelegt zu haben. Dabei sind für die Jahre 2008 bis 2010 jeweils 10 Millionen Euro zur Durchführung des
Aktionsplans im Bundeshaushalt veranschlagt.
_Kritik an der Ernährungspolitik_ Die Frage nach der Qualität deutscher Ernährungspolitik wird von vielen
Experten belächelt. Gibt es eine solche Ernährungspolitik überhaupt, so die Gegenfrage eines
Wissenschaftlers. "Wir hängen da sehr weit hinterher", lautet die Einschätzung von Prof. Ulrich Oltersdorf,
"wahrscheinlich auch so eine Pisaplatzierung oder noch schlechter im Bereich Ernährungspolitik und
Ernährungsprogramme, wie bei der Bildungspolitik." Auch Stefan Etgeton, Ernährungs- und
Gesundheitsexperte vom
Bundesverband der Verbraucherzentralen, ist mit der Ernährungspolitik unzufrieden. "Wir wissen ja schon
seit Jahren, dass es dieses Problem gibt, und insofern wundert es einen schon, dass die Bundesregierung
nicht früher aktiv geworden ist und so etwas wie einen nationalen Aktionsplan aufgelegt und konkrete
Massnahmen und auch Aufträge erteilt hat. Das ist bisher nicht passiert, aber dringend notwendig, dass
das schleunigst gemacht wird. Und zwar auf einer guten Grundlage - und die Nationale
Verzehrsstudie bietet eine gute Grundlage." _Prävention - Thema für Sonntagsreden_
Statt einen konkreten Aktionsplan vorzulegen, formuliert das Bundesministerium Ziele: Die
Ernährungsforschung solle gestärkt,
die Prävention ausgebaut werden. Denn allein die Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursachten in
Deutschland
Behandlungskosten in Höhe von 35 Milliarden Euro heisst es in einer Erklärung von Anfang 2007. Da wirken
die 10 Millionen Euro für den Nationalen Aktionsplan Ernährung auf einmal ganz gering.
Nachbarländer wie Grossbritannien geben dafür deutlich mehr aus, weiss Stefan Etgeton. "Das Thema
Prävention ist immer ein schönes Thema für Sonntagsreden, Prävention ist richtig und sie ist auch wichtig,
aber wir müssen feststellen, dass zu wenig Geld dafür investiert wird. Das ist eigentlich eine Katastrophe,
dass wir bei dem Thema so schwer vorankommen. Das hängt damit zusammen, dass sich die Erfolge, die
ich heute in der Prävention erziele, erst in den nächsten Jahrzehnten in barer Münze auszahlen." "Man
kann natürlich mutmassen", so Etgeton weiter, "ob möglicherweise auch andere Interessen dahinter
stecken. Wir wissen, dass die Ernährungsindustrie eine machtvolle Lobby hat, und natürlich heisst mehr
Prävention, mehr Aufklärung und möglicherweise auch Massnahmen im Bereich Werbeverbote. Das heisst,
wenn man konkret wird, stösst man an Interessen, und möglicherweise besteht auch ein Interesse hier
nicht konsequent weiterzugehen, das ist aber eine Mutmassung." In der bereits weiter oben zitierten
Erklärung des Ministeriums hiess es Anfang 2007: "20
Prozent mehr Menschen sollen bis 2010 täglich fünf Portionen Obst und Gemüse essen." Fragt sich nur,
weshalb sie das tun sollten? Und wie man sie dazu bekommt? Womit man wieder bei der Verzehrsstudie
wäre und dem Mangel an konkreten Projekten.
_Ziel: Der souveräne Verbraucher_
Natürlich ist auch jeder einzelne Verbraucher gefordert, etwas für seine Gesundheit zu tun. Grundlage dafür
sind aber zunächst sachgerechte, leicht verständliche Informationen. Um diese zu vermitteln, muss man
den Menschen kennen. Die Erkenntnisse aus der Nationalen Verzehrsstudie können hierbei hilfreich sein.
"Um ein souveräner, verantwortungsbewusster Verbraucher zu sein", so Prof.
Ulrich Oltersdorf, "muss man Bescheid wissen. Wer nicht Bescheid weiss, ist ein Ernährungsanalphabet
oder Ernährungslegastheniker -
und die sind besonders gefährdet." _Links_
*
http://www.wdr.de/tv/servicezeit/essen_trinken/sendungsbeiträge/200
8/0208/03_verzehrsstudie.jsp Nationale Verzehrsstudie - erste Ergebnisse
(Servicezeit: Essen & Trinken vom 8. Februar 2008)
* http://www.was-esse-ich.de/index.php?id=74
Nationale Verzehrsstudie II Hintergrundinformationen und Aktuelles zur Studie
* http://www.was-esseich.
de/uploads/media/NVS_II_Ergebnisbericht_Teil_1.pdf Nationale Verzehrsstudie II Die genauen Ergebnisse
der Studie (PDF-Datei, 1,69 MB)
*
http://www.bmelv.de/nn_1029776/DE/03-Ernährung/04-Forschung/Nationa
leVerzehrsstudie/NVS2__Hintergründe.html__nnn=trü Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz "Hintergründe und Methoden der Nationalen Verzehrsstudie 2"
*
http://www.bmelv.de/cln_045/nn_751694/DE/12-Presse/Pressemitteilunge
n/2007/030-NationalerAktionsplanErnährung.html__nnn=trü
Pressemitteilung Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vom 26.
Februar 2007 "Nationaler Aktionsplan Ernährung" für Mitte des Jahres angekündigt"
* http://www.ernährung-und-bewegung.de
Plattform Ernährung und Bewegung e.V. (peb) Bündelt eine Vielzahl gesellschaftlicher Kräfte, die sich aktiv
für eine ausgewogene Ernährung und viel Bewegung als wesentliche Bestandteile eines
gesundheitsförderlichen Lebensstils bei Kindern und Jugendlichen engagieren.
O-Titel:
Nationale Verzehrsstudie - Ergebnisse und keine Folgen? (Info)