Die Münchner Weisswurst ist der Bayern Stolz. Das Rezept aber verdanken sie den Schweizern.
Von Sybil Schreiber Der Bayer ist ein stolzer Mensch. Er lebt in einem weissblauen Königreich, dessen
Grenzen er "Weisswurst-Äquator" nennt. Erstens,
weil die weissen Würste seine Leibspeise sind. Und zweitens, weil der Bayer davon ausgeht, dass jenseits
der Wurstgrenze niemand diese Delikatesse originalgetreu herstellen kann.
Aber da täuscht er sich ganz gewaltig. Denn ohne die Schweizer könnte er seine "Weisswurscht" -- so
wird sie in Bayern liebevoll
genannt -- schlichtweg vergessen. Der Zuercher
Metzger-Personalverband wars nämlich, der 1950 ein Handbuch für die
Wursterei herausgab. Und eben dort wurde das bis dahin einzige schriftliche Rezept der "Münchner
Weisswurst" verewigt. Was früher an Weisswürsten im Wasser schwamm, waren völlig unterschiedliche
Versionen des heutigen Klassikers. Das Schweizer Rezept hingegen wird seither in dieser Form von den
profilierten Wurstmachern angewendet.
Doch das interessiert kaum einen in Bayern. Man will in Ruhe seine Würste essen und sich nicht mit
aussenpolitischem Papperlapapp abgeben.
Prall wie die Brust einer Magd Rund um die Weisswurst, die für Stammtischbrüder "so weiss sein muss
wie das Knie einer Jungfrau und so prall wie die Brust einer Magd", kursieren allerlei Gerüchte. "Mythos
Weisswurst" nennt der Münchner Journalist und Buchautor Peter M. Lill die bayerische Fleischeslust, und
so heisst auch sein Buch zum Thema. Als gebürtiger Bayer weiss der Autor ausserdem, dass für seine
Mitmenschen im Freistaat die Weisswurst kein Nahrungsmittel ist, sondern ein Stück Heimat -- ein
schützenswertes Kulturgut
gewissermassen, das mit Respekt zu behandeln ist. Auch wenn es der Bayer anders sieht, macht sich die
Weisswurst langsam, aber sicher auch jenseits des Wurst-Äquators einen Namen. Wer früher aus
München anreiste, nahm als Mitbringsel einen Sack Würste und den obligaten süssen Senf mit. Die
Beschenkten stürzten sich darauf, denn die gebrühte weisse Wurst war ein seltener Leckerbissen. Ein
Schmankerl eben, wie die Münchner sagen.
Nichts als Wasser Mittlerweile gibts die hellhäutige Delikatesse auch bei einigen innovativen Schweizer
Metzgereien zu kaufen. Der Globus produziert alle zwei Tage "eine ganze Menge hausgemachter
Weisswürste", erklärt Roland Kaiser von der Charcuterie. Die Wurst aus Bayern belege gar Platz drei der
Wurst-Hitparade, liegt also knapp hinter
Kalbs- und Schweinsbratwurst. Und besonders jetzt, da in München das
Oktoberfest stattfindet, scheinen viele Zuercher ein bisschen an der gemütlichen, bierseligen Stimmung
teilhaben zu wollen: "Im
Augenblick werden wir richtig bestürmt", freut sich Kaiser. Spoetter rümpfen über den Erfolg der
bayerischen Wurst die Nase: Sie sei ja
eigentlich nichts anderes als gefestigtes Wasser. Stimmt. Aber nur bedingt. Denn neben H2O stecken
darin auch Kalbsbrät, Schweinespeck, allerlei Häutelwerk, Muskatbluete, Zwiebel, Zitrone und Petersilie.
Ein Münchner Faschingsprinz .sagte einst, dass die Petersilie in der Weisswurst für einen echten Bayern
die einzige Art sei, Vitamin C zu sich zu nehmen.
Jedenfalls nimmt er eine Menge Kalorien zu sich: 290 Kalorien pro
hundert Gramm verbergen sich in der Wurst. "Ein normal grantelnder Durchschnittsbayer, also ein
mürrischer, hat mit vier Würsten pro Tag seinen täglichen Kalorienbedarf zur Hälfte abgedeckt", schreibt
Buchautor Lill. Sein Fazit: "Die Weisswurst trägt wesentlich zum
Ausbau des persönlichen mittleren Rings bei und prägt somit eindeutig das Allgemeinbild der Menschen in
bayerischen Städten und Dörfern." Die Urweisswurst, deren Rezept später von den Schweizern verfeinert
und vor allem niedergeschrieben wurde, erblickte das Licht 1857 im Gasthof "Zum ewigen Licht" am
Münchner Marienplatz. Der Moser Sepp war ein umtriebiger Wirt. Am Faschingssonntag stand er
frühmorgens.in seiner Küche und bereitete die Wurstmischung vor.
Bis dahin hatte er die Masse in dünne Schafssaitlinge abgefüllt und dann braun gebraten. Aber dem
Schicksal sei Dank, waren ihm just an jenem Sonntag die Schafsdärme ausgegangen. Er hatte einzig
noch Schweinedarm zur Hand, füllte diesen dick mit Brät -- und um die
feine Schweinehaut nicht durchs Braten zu ruinieren, köchelte er die Würste sachte im Wasser.
Als die Gäste zum Frühschoppen Bier und Würste bestellten, staunten sie nicht schlecht. Aufgetischt
wurden keine verkohlten Bratwürste, sondern pralle, blasse Dinger. Die Skepsis wich nach dem ersten Biss
der Begeisterung -- so jedenfalls wills die Legende:
"Pfennigguat, Sepp!" sollen die Gäste gerufen haben.
Bei aller Freude über die Entdeckung stellte sich schon damals die Frage: Isst man die Haut mit oder
nicht? "Bloss nicht!", rufen
bayerische Schlemmermäuler. "Die Haut hat übrig zu bleiben!" Und das ist eine Kunst.