Erdige Süsse zu knackiger Frische: Das "Essigbrätlein" überrascht
mit deutscher Küche auf modernstem Stand.
Kein Hummer, kein Kaviar, keine Gänsestopfleber - teure
Luxusprodukte stehen nicht auf der Karte, sondern Rote Bete mit Artischocken, Steckrüben mit
Zitronenchutney oder Rochen auf Schwarzwurzeln. Auch in dem kleinen, fast komplett mit dunklem Holz
vertäfelten Raum, modern gestylten Schwarzweissfotos aus der Küche und tief hängenden bunten
Bleiglaslampen gibt es kaum einen Hinweis darauf, dass das "Essigbrätlein" eines der Top-Restaurants in
Deutschland ist. Nur die weiss eingedeckten Tische mit Silberbesteck und feinen Weingläsern lassen
vermuten, dass man in Nürnbergs ältestem Gasthaus (gebaut 1536) mehr als fränkische Hausmannskost
erwarten kann.
Doch ein grösserer Kontrast zwischen historischer Kulisse und der höchst fortschrittlichen Kochkunst von
Andree Köthe und seinem Partner Ives Ollech ist kaum denkbar. Seit mehr als zehn Jahren tüfteln die
beiden schon zusammen an der Umsetzung ihrer Geschmacksphilosophie, die sich bedingungslos am
möglichst perfekten Zusammenspiel unterschiedlicher Aromen und Texturen sowie verschiedenen
Temperaturen und dem Eigengeschmack der verwendeten Produkte orientiert. Das funktioniert zum
Beispiel bei den Gemüse-Gängen nur deshalb, weil etwa Blumenkohl, Steckrüben oder
die Rote Bete, die Köthe jeden Morgen mit Fahrrad und Holzwägelchen vom Markt holt, jung, extrem frisch
und von herausragender Qualität sind.
Was sich dann beim ersten Gang auf dem Teller abspielt, ist eine vegetarische Offenbarung: Zylinderförmig
geschnittene Rote Bete,
bissfest gegart und mit hellgrünen Dillsamen bestreut, stecken in einem Püree von Artischocken, die auch
gehobelt oben auf liegen. Im Mund kontrastiert zunächst erdige Süsse mit ätherischen Aromen, und
cremige Sanftheit wechselt mit knackiger Frische ab, bis alles von einem tiefgrünen Salatgurkenfonds nicht
nur umspielt sondern auch harmonisch verbunden wird. Bei einem Gang wie dem Rochen auf Pfifferlingen
treffen Zutaten aufeinander, bei denen man sich vorher eigentlich nicht vorstellen kann, dass sie zusammen
passen könnten:
der glasig gegarte Rochenflügel mit Curry gewürzt, die Pilze mit kleinen Würfeln vom weissen Pfirsich
versetzt und die karamellisierten Haselnüsse mit Salz und einer Spur frisch geriebenem Knoblauchs
abgeschmeckt. Würze, Fruchtsäure, gebändigte Süsse und nussiger Nachhall greifen beim Schmecken so
selbstverständlich ineinander, dass man sich schon nach den ersten Bissen nicht mehr im geringsten
wundert, warum dieses Gericht so leicht und problemlos nachvollziehbar ist, wie eine klassisch-traditionelle
Kombination à la Birnen, Bohnen und Speck.
Das gilt auch für den vom Restaurant-Chef Ivan Jakir lächelnd als
"Fränkische Tiramisu" angekündigten Schweinebauch mit Kakao.
Fantastisch zartes Fleisch vom Bioschwein, ohne Schwarte aber mit dickem, festen Fettstreifen, der mit
einer Schicht Kakaopulver bestreut ist auf kurz gedünsteten und abwechselnd geschichteten Scheiben von
Birne und weissem Rettich mit einem Tropfen Olivenöl -
das ist nichts weniger als die Weiter-Entwicklung einer in ihrem
Wesen eigentlich deutschen Küche auf den denkbar modernsten Stand.
Darunter zählt auch ein scheinbar banales Dessert wie das höchst cremige Milchreiseis, das gerade
anfängt, über den fantastisch frischen Himbeeren mit ihrem Coulis zu schmelzen, um unten auf eine Sauce
von Butterkaramell zu treffen und genau damit diesen Klassiker in eine eigene Dimension zu heben.
Aus der spektakulären Weinkarte mit einigen superben kalifornischen Flaschen fischt Jakir dazu immer die
passenden Weine heraus und sorgt ausserdem mit seiner charmanten Kollegin für einen entspannten
Service, der keine Wünsche offen lässt. Ausser dem, schnellstmöglich wieder nach Nürnberg zu fahren,
um dieses immer wieder aufs Neue aufregende und einzigartige Essens-Erlebnis so bald
wie möglich zu wiederholen. Wer weiss, was Andree Köthe und Yves Ollech, die Anwärter auf den zweiten
Michelin-Stern sind, bis dahin
wieder angerichtet haben? _Restaurant & Buch_ Essigbrätlein Weinmarkt 3, 90403 Nürnberg, [TEL] 09
11/22 51 31 Öffnungszeiten: Di. bis Sa. 12-14 und ab 19 Uhr,
Vorspeisen ab 19 Euro, Hauptgerichte 27 Euro, Desserts 10 Euro, Menüs 75 und 92 Euro In Andree
Köthes und Yves Ollechs Buch "Die Kunst des Würzens" gibt es keine Bilder zu den Rezepten, keine
opulente Ausstattung, keine Selbstbeweihräucherung: Rein äusserlich macht diese
Rezeptsammlung im Taschenbuchformat nicht viel her. Aber die Rezepte selbst sowie die ausführlichen
Beschreibungen der Grundaromatik und des gekonnten Einsatzes von Kräutern und Gewürzen haben es so
sehr in sich, dass man vieles am liebsten sofort selbst ausprobieren würde.
Das ist zwar beim Abschmecken am eigenen Herd nicht ganz so einfach, wie es sich liest, aber mit etwas
Übung kommt man schon schnell ziemlich weit. Vor allem die Zubereitung von Gemüse sowie die Gerichte
mit Obst und Käse - etwa des hier vorgestellten
Rote-Bete-Salats mit gebratenem Ziegenkäse oder die Kombination
Bleu d'Auvergne mit Sauerkirschen - sind problemlos und einfach im
Alltag umsetzbar - Aha-Effekte garantiert.
Köthe/Ollech: Die Kunst des Würzens - 101
phantasievoll-aromatische Gerichte
Girschek Verlag 2000, Preis 8 Euro Das Buch ist im normalen Buchhandel vergriffen, aber noch zu
beziehen über K & U - die Weinhalle, Nürnberg,
Tel. 09 11/ 52 51 53 http://www.weinhalle.de
Rezepte:
Glacierter Heilbutt mit Lauch Rote-Bete-Salat mit gebratenem Ziegenkäse