Der Cervelat - die Nr. 1 aus dem eidg. Wurstkessel
Für
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Text
NACH EINER GESCHICHTE VON
- Rene Simmen
- Erfasst von Rene Gagnaux
Des Schweizers liebste Wurst, der Cervelat (auch Cervela, Cervelas und Servela geschrieben), ist eine
Brühwurst und besteht als solche zu 60 Prozent aus Wasser, aus Rind- und Schweinefleisch sowie Speck
und
Schwarten; der Anteil an Fett liegt bei 25, der an Eiweiss bei 12 Prozent. Die restlichen Prozente entfallen
auf Würzstoffe, Salze, Zuckerarten, Nitrit und Phosphat, etwas mehr in der Romandie, etwas weniger in der
Deutschschweiz (sonst sind die verschiedenen Rezepte praktisch überall etwa die gleichen).
Das liest sich zugegebenermassen ziemlich grauslieh - wie auch
anderes, das analysiert und in Prozente zerlegt wird: Der Mensch, das
angeblich edelste Produkt der Schöpfung, besteht aus 65 Prozent Wasser, 30 Prozent Fett und Eiweiss
sowie 5 Prozent Glukogen, Mineral- und anderen Stoffen. Der Mensch ist abgepackt in oft
schrumplige, behaarte Haut; die Haut des Cervelats hingegen ist dünn und wunderbar glatt. Sein
appetitliches Aussehen verdankt der Cervelat einer mit sich im Einklang stehenden Zubereitungsart:
Schnell rotierende Messer eines Cutters verarbeiten die Zutaten (siehe oben, Fremdwasser in Form von
Eis) zu einem homogenen Brät.
Prall wird dieses in den Naturdarm "gestossen", abgebunden oder mit einer Metallklammer abgeclippt.
Anschliessend wird der Cervelat, was seiner Haltbarkeit und seinem Aussehen zugute kommt, während 40
bis 45 Minuten heiss geräuchert und in 75 Grad heissem Wasser gebrüht.
Das Resultat der ganzen Prozedur: eine etwa 110 Millimeter lange, um
die 35 Millimeter dicke und rund 100 Gramm schwere, hellbraun-matt-glänzende Schönheit.
Doch nicht allein sein Äusseres erhebt den Cervelat zur Nr. 1 der typisch schweizerischen Wurstwaren.
Populär ist er auch wegen seiner vielseitigen An- und Verwendungsmöglichkeiten. Der Cervelat lässt
sich kalt am Stück oder als Wurstsalat essen; auch warm aus dem Sud.
Oder als Wurst-Kartoffel-Eintopf, das heisst gewürfelt und mit
Kartoffelwürfeln und Zwiebeln gegart. Oder grilliert, zum Beispiel mit einer Käsescheibe zwischen den
Hälften als Cordon bleu. Oder an Stecken gesteckt und über flammendem Feuer zu Kohle verdorben. Oder
gewürfelt und gebraten den Hörnli beigegeben.
Obzwar gemäss unserem verqueren Denken nur das Teure gut ist - und
der billige Cervelat somit schlecht zu sein hat -, schmeckt der
Cervelat den Betuchten wie auch knapp Betuchten.
Allein die Vielseitigkeit und der Preis vermögen allerdings die Spitzenposition des Cervelats noch nicht zu
erklären. Denn bieten andere Brühwürste wie Schüblig, Schützen- und Schweinswurst,
Wienerli nicht die gleichen oder ähnliche Vorteile? Argumente wie der Hinweis auf vaterländische Gefühle
oder Erinnerungen an Schulreise, Pfadi und Militärdienst sind ebenfalls nicht allzu hoch zu bewerten, denn
davon profitieren ja auch Schüblig und Landjäger.
So können wir nicht umhin, den Erfolg des Cervelats in einer höheren Sphäre aufzuspüren, nämlich in der
Kunst. Der Cervelat ist als Gesamtkunstwerk zu betrachten, das alle fünf Sinne anspricht: Auge
(Schönheit), Gefühl/Tastsinn (zart-fester Biss, Schmelz des
Bräts), Nase (dezenter Gewürz- und Rauchgeruch), Gaumen (Vielfalt
des Geschmacks), Ohr (zarter Knackton beim Hineinbeissen, Brutzelgeräusche beim Braten). Marcel
Duchamp hatte seinerzeit den Flaschenständer zum Kunstwerk erklärt. Für Andy Warhol war die
Suppendose von Campbell die gegebene Kunstform. Roy Lichtenstein erfasste im Hot dog das
zeitgemässe Kunstempfinden der Amerikaner.
Wo ist der zeitgenössisch-eidgenössische Künstler, der dem
Cervelat ein Denkmal setzt?