Über Gänse gibt es zahlreiche Legenden und Märchen, aber ausgerechnet die "Gebrüder Grimm"
widmeten dem Federvieh ein Stück gastronomische Prosa: "Als lebende Hausgenossen gelten sie
ziemlich
wenig, aber gerupft und gebraten werden sie hoch gehalten." So denken Feinschmecker vor allem
zwischen Sankt Martin und Weihnachten. In dieser Zeit brutzeln schätzungsweise drei Millionen Gänse in
deutschen Bratröhren.
Im "Hering", dem klassischen, nach seinem Verfasser so genannten "Lexikon der Küche" sind mehr als 30
Rezepturen verzeichnet. Auf "deutsche Art" wird die Gans mit Äpfeln und Weisskraut gefüllt, mit Speck
umwickelt, gebraten und auf Sauerkraut serviert. Nach "Hamburger Art" füllt man den Vogel mit geschälten,
in Butter angedämpften Apfelscheiben und entkernten Backpflaumen. Zur mächtigen "Mecklenburger Art"
gehört wiederum eine Füllung aus Weissbrot mit Gänsefett, Malagatrauben, Apfelspalten und
Gänseleberwürfeln.
Will man die Gans a' la "Bordeaux" zubereiten, wird sie mit Weissbrot, Sardellenbutter, gehackter
Gänseleber, gehackten Oliven, Petersilie und etwas Knoblauch gefüllt, mit Speck umwickelt und gebraten.
Die stets esslustigen Flamen umlegen den Braten mit gedünsteten Salatkugeln, olivenförmig geschnittenen
Mohrrüben, weissen Rübchen, Kartoffeln und gekochten Fleischspeckwürfeln. Bismarck, ein starker Esser,
mochte eine Füllung aus Kastanienmus und Äpfeln, nebst Weinkraut als Beilage. Die Engländer füllen die
Gans mit Weissbrot, Zwiebeln, Salbeiblättern und Muskat; Apfelmus wird separat serviert. Aus dem
Mittelalter stammt ein Rezept für gesottene Gans, die in einer dicken Sosse aus Honig, Essig, Brühe,
etwas Öl, gerösteten Mandelkernen sowie Gewürzen aufgetischt wird.
Füllungen haben ihren Reiz, oft schmecken sie besser als das Drumherum. Wenn jedoch eine Bauerngans
zur Hand ist, jung, um die drei bis vier Kilo, dann wird sie der Gourmet pur braten und fleissig begiessen,
bis die Haut jenes knusprige Goldbraun hat, an der man auch eine Stradivari erkennt. Für die Vollendung
benötigt die edle Köchin oder der wackere Koch etwas Hühnerbrühe, Salz, Zwiebeln (mit Schale, das gibt
extra Farbe), Sellerie und Äpfel (jeweils in grosse Stücke geschnitten), die Flügel, Hälse sowie die Füsse
der Gans, einige Majoranblättchen. Wesentliche Utensilien sind zudem eine Kasserolle, eine grosse
zweizinkige Gabel und eine Bratkelle.
Tante Therese pflegte die Gans heiss abzuwaschen, zu trocknen und mit Salz innen sowie aussen
einzureiben. Auf Beifuss, was manche nehmen, um das Fett verträglicher zu machen, verzichtete sie; es
war ihr zu beissend, abgesehen davon, dass eine sauber gepäppelte Junggans sowieso nicht unmässig fett
ist.
Nun in einer Kasserolle etwa zwei Finger hoch Wasser (inklusive der Geflügelbrühe) zum Kochen bringen,
die Gans mit der Brustseite nach unten hineinlegen und den Bräter ins 220 Grad heisse Rohr schieben.
Nach einer halben Stunde die Gans wenden, nach einer weiteren halben Stunde das Gemüse und die
anderen Beilagen, auch etwas Majoran, dazugeben - und den Braten immer fleissig begiessen. Eine
weitere
halbe Stunde später - insgesamt ist die Gans nun eineinhalb Stunden
im Ofen - mit der Gabel die Garprobe machen. Gehen die Zinken leicht
heraus und ist kein Blutsaft zu sehen, ist der Vogel gar. Fett klären, abgiessen und mit dem Fond zur
Vervollkommnung des Gerichts eine herzhafte Sosse machen (angereichert mit etwas altem Sherry).
Als Partner zur Gans nach Art von Tante Therese zaubert der Lebenskünstler entweder einen grossen
Champagner herbei (wunderbar der 1990er "Cristal" von Röderer oder die 1989er "La Grande Dame" (von
Veuve Clicquot) oder einen Weisswein von wuchtiger Struktur. Das kann ein badischer Grauburgunder sein,
ein Weissburgunder aus der Pfalz (Typ Spätlese trocken) oder ein Grüner Veltliner "Smaragd" aus der
Wachau.
So eine Gans, flankiert vielleicht von einem Kartoffelpüree und Weinkraut, ist ein privates kulinarisches
Weltereignis.